Neunter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Neunter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Organisatoren
Michael Kubacki, Philipps-Universität Marburg; Sandra Funck, Georg-August-Universität Göttingen; Archiv der deutschen Jugendbewegung
PLZ
37213
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
29.04.2022 - 01.05.2022
Von
Max-Ferdinand Zeterberg, Kassel

Bereits seit 2013 findet jährlich – mit der Corona-Ausnahme im Jahr 2020 – der Workshop zur Jugendbewegungsforschung statt. Entstanden aus einer Initiative von Nachwuchswissenschaftler:innen sollte der Workshop auch im Jahr 2022 dazu dienen, ein Forum zu bieten, Forschungen zur (historischen) Jugendbewegung und generell aus dem Gebiet der historischen Jugendforschung vorzustellen und sich gegenseitig zu beraten. Da das Organisationsteam leider kurzfristig krankheitsbedingt ausfiel, fand der Workshop selbstorganisiert durch die elf Teilnehmer:innen unter Führung von Frauke Schneemann statt.

Der Workshop begann nach einer kurzen Begrüßung und Vorstellungsrunde mit einer Keynote von SUSANNE RAPPE-WEBER (Witzenhausen) und MARIA DALDRUP (Oer-Erkenschwick). Die Leiterinnen des Archivs der deutschen Jugendbewegung beziehungsweise des Archivs der Arbeiterjugendbewegung referierten über die Möglichkeiten der Kooperation zwischen (Jugend-)Bewegungen und Archiven zur Archivierung aktueller Bewegungen wie zum Beispiel Fridays for Future. In der folgenden Aussprache diskutierten die Workshopteilnehmer:innen unter anderem darüber, inwieweit es überhaupt legitim ist, als Archiv proaktiv auf eine Bewegung zuzugehen oder ob es nicht Aufgabe einer Bewegung sei, für ihre Archivierung selbst zu sorgen. Im Anschluss folgte eine Führung durch das Archiv der deutschen Jugendbewegung.

JUSTUS GREBE (Gießen) stellte seine Dissertation vor, in der er analysiert, wie sich das Verhältnis zu Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit bei Jugendlichen in den frühen 1980er-Jahren verändert hat. Der Vortrag spiegelte dabei den Stand nach Abschluss der ersten Konzeptionsphase wider. Als Forschungsobjekte dienten die von ihm als „Wende-Jugend“ bezeichneten jugendlichen Anhänger:innen der „geistig-moralischen Wende“ – also konkret die Mitglieder der CDU- und FDP-nahen Jugendverbände. Diese kontrastiert Grebe mit der Punkbewegung. Der Fokus des Vortrags lag neben der Vorstellung der theoretischen Hintergründe der Arbeit auf einer exemplarischen Quellenanalyse. Dabei arbeitete Grebe grundsätzliche Unterschiede in den Zeitkulturen von Wende-Jugend und Punkbewegung heraus: Letztere formulierte eine dystopische Beschreibung der Gegenwart, wie das Lied „Deutschland“ der Band „Slime“ zeigt, wohingegen erstere positiv in die Zukunft blickten, wie Plakate der Jungen Union deutlich machten.

Die Promotion von LIEVEN WÖLK (Berlin) behandelt, im Gegensatz zum vorherigen Vortrag, die deutsche Jugendbewegung im engeren Sinne: Er untersucht den Jugendbund „Schwarzes Fähnlein“, der offiziell von 1932-1934 bestand und mit den Adjektiven „bündisch“, „jüdisch“ und „rechts-deutsch“ charakterisiert werden kann. Die Schwerpunkte der Promotion betreffen erstens die Gruppengeschichte im Kontext der deutschen Jugendbewegung, zweitens die Auseinandersetzung von jüdischen Deutschen mit dem Nationalsozialismus sowie drittens die Rezeptionsgeschichte des Schwarzen Fähnleins in Selbsthistorisierungen und Erinnerungsnetzwerken der ehemaligen Mitglieder. Der Vortrag fokussierte sich auf den dritten Bereich: Obwohl sich die Mitglieder des Schwarzen Fähnleins durch Flucht und Vertreibung auf der ganzen Welt verstreut haben, gelang es ihnen noch Jahrzehnte nach Kriegsende Kontakt zueinander zu halten. Dieses Netzwerk der ehemaligen Fähnlein-Mitglieder kommunizierte bis in die 2000er-Jahre über Rundbriefe, über das Leo Baeck Institute Yearbook sowie persönlich auf unregelmäßig stattfindenden Reunions. Ein erklärtes Ziel der früheren Mitglieder des Schwarzen Fähnleins war es, Originalmaterial des Schwarzen Fähnleins zu sammeln, zu archivieren und damit eine Basis für eine quellenkritische Geschichtsschreibung zu diesem deutsch-jüdischen Jugendbund zu schaffen.

NITZAM MENAGEM (Berlin) und ILONA MARTIJN (Berlin) präsentierten kein klassisch-akademisches Forschungsprojekt, sondern ein Geschichtsprojekt des Jugendverbands Hashomer Hatzair Deutschland zur Geschichte der deutschen Sektion von Hashomer Hatzair in den 1930er-Jahren. Die erste Projektphase bestand aus zwei Teilen: Zum einen fuhr eine Jugendgruppe des Hashomer Hatzair nach Israel, um in Archiven zu recherchieren und Zeitzeugeninterviews durchzuführen. Zweitens wurden darauf basierende Bildungsmaterialien erstellt. Diese Projektphase ist weitgehend abgeschlossen. Menagem und Martijn stellten die Rechercheergebnisse zur Herbert-Baum-Gruppe vor, einer jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus: Viele Mitglieder der Herbert-Baum-Gruppe seien zuvor im Hashomer Hatzair aktiv gewesen. Die nächsten Schritte des Projekts sind die Arbeit mit Jugendlichen sowie als Abschluss die Veröffentlichung einer Dokumentation.

Die drei nächsten Vorträge behandelten die Geschichte der deutschen Pfadfinder:innenbewegung in der Nachkriegszeit. FRAUKE SCHNEEMANN (Göttingen) stellte ein Kapitel ihres Promotionsprojekts vor. In ihrer Dissertation analysiert sie, wie sich die internationale Einflussnahme während der Reorganisation der deutschen Pfadfinder:innenbünde auf deren weitere Entwicklung ausgewirkt hat. In ihrem Vortrag beschrieb Schneemann am Beispiel der britischen Besatzungszone, wie sich die Pfadfinder:innenbünde in den ersten Nachkriegsjahren neu formierten. Der Fokus lag auf den beteiligten Akteuren – deutsche Pfadfinderführer:innen, Offiziere der Besatzungsmacht sowie Vertreter:innen der Weltpfadfinder:innenorganisationen – und ihren jeweiligen Interessensphären. Dabei konnte Frauke Schneemann zeigen, wie die britischen Besatzungsoffiziere und die Weltpfadfinder:innenorganisationen anhand der Pfadfinder:innenbewegung die Demokratiefähigkeit der Deutschen verhandelten.

MAX-FERDINAND ZETERBERG (Kassel) betrachtet in seiner Dissertation einen etwas späteren Zeitraum – die 1960er- und 1970er-Jahre – und beschränkt sich auf die evangelischen Pfadfinder:innen. Das Ziel der Arbeit besteht darin, am Beispiel der evangelischen Pfadfinder:innen herauszuarbeiten, welche pädagogischen Diskurse sich in Jugendverbänden in den 1960er-/1970er-Jahren entwickelt haben. Im Vortrag stellte Zeterberg zum einen die Gesamtkonzeption der Arbeit und zum anderen einen bereits rekonstruierten Diskurs vor. Dieser Diskurs wurde von ihm als „Modernisierung des Pfadfindens“ betitelt. Er konzeptualisierte Pfadfinden als eine Form von Jugendarbeit, die der Gesellschaft dient, indem sie junge Menschen zu mündigen Staatsbürger:innen erzieht. Dies stand im Gegensatz zu älteren Selbstbeschreibungen des Pfadfindens, die den eigenen Bund von der Gesellschaft abgrenzten und die Erziehung zum „Kreuzpfadfinder“ – die Erwachsene „Elite“ der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands – in den Mittelpunkt stellten.

Im Gegensatz zu diesen beiden Promotionsprojekten, die sich auf die Pfadfinder:innen in der Bundesrepublik Deutschland beschränken, arbeitet HENDRIK KNOP (Jena) zur bisher wenig beachteten Geschichte der Pfadfinder:innen in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der Deutschen Demokratischen Republik. Dabei geht er der Frage nach, „inwiefern eine pluralistische Kinder- und Jugendarbeit in einem Land mit einer erklärten Einheitsjugend möglich war“. In seinem Vortrag gab er einen Überblick über das verfügbare Material, das vor allem aus Gruppen- und Fahrtenchroniken sowie Zeitzeugeninterviews besteht. Darüber hinaus präsentierte Knop erste Ergebnisse seiner Untersuchung. So konnte Knop zeigen, dass es trotz eines Verbots unabhängiger Jugendorganisationen bis zum Mauerbau aktive katholische, evangelische und interkonfessionelle Pfadfinder:innengruppen in der DDR gegeben hat, die oftmals Verbindungen zu den jeweiligen Verbänden in Westdeutschland hielten.

Die zwei abschließenden Vorträge behandelten (Jugend-)Geschichte in Witzenhausen und Umgebung. FLORIAN METZGER (Göttingen) geht in seiner Masterarbeit der Frage nach, wie die Schüler der Deutschen Kolonialschule Witzenhausen in der Region verortet waren. Als Teil dieser Verortung will er ihre Handlungsspielräume, die Beziehungen zu anderen Jugendlichen und die Gewaltförmigkeit ihres Lebens in Witzenhausen untersuchen. Ausgangspunkt ist dabei der Überfall von Kolonialschülern auf den Jungjüdischen Wanderbund Brith Ha’olim im August 1931. Auf Basis von Schulakten und Ego-Dokumenten wird untersucht, wie sich die Kolonialschüler zwischen 1924 und 1934 politisch selbstorganisierten und radikalisierten. Damit wird auch die dahinterstehende Frage des Verhältnisses zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus angeschnitten, so der Referent.

JOHANN NICOLAI (Berlin) wiederum untersucht in seinem Forschungsprojekt die Geschichte der „Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie“ zwischen 1952 und 1962, die sich jährlich auf dem Ludwigstein traf. Diese Arbeitsgemeinschaft war ein von Jakob Wilhelm Hauer gegründetes Netzwerk. Hauer lehrte bis 1945 in Tübingen Religionswissenschaften und Indologie und war in den 1930er-Jahren der Führer der Deutschen Glaubensbewegung, NSDAP-Mitglied und Rasseforscher. Nicolai will herausfinden, ob diese Arbeitsgemeinschaft eine Fortführung von SS-Netzwerken gewesen ist und was genau ihre politischen Ziele waren.

Insgesamt hat dieser Workshop gezeigt, dass die „Jugendbewegungsforschung“ eine Erweiterung erfahren hat. Es geht nicht mehr ausschließlich um die deutsche Jugendbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, sondern es werden auch Forschungen zu anderen Bereichen der Jugendgeschichte dazu gezählt. Deutlich lässt sich auch ein Trend zur Historisierung der Nachkriegszeit der Jugendbewegung, die erst seit einigen Jahren quellenkritisch untersucht wird, feststellen. Mit einem Geschichtsprojekt aus der aktuellen Jugendverbandsarbeit wurde zudem eine weitere – aber nicht ungewöhnliche – Form der Jugendbewegungsforschung vorgestellt. Über alle Vorträge hinweg verlief der Workshop in einer Atmosphäre konstruktiven Austauschs, von dem alle vorgestellten Projekte sicherlich profitieren werden.

Konferenzübersicht:

Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen) / Maria Daldrup (Oer-Erkenschwick): Fridays for Future archivieren: Zur Rolle von Jugendarchiven als Gedächtnis sozialer (Jugend-)Bewegungen

Justus Grebe (Gießen): Wende und Weltuntergang. Die Zeitkulturen der jugendlichen Lebensformen Punk und Wende-Jugend in der Bundesrepublik der 1980er Jahre

Lieven Wölk (Berlin): „Ich bekomme zahlreiche Briefe aus aller Welt…“ Erinnerungsnetzwerke und Selbstdokumentationen ehemals Jugendbewegter aus dem deutsch-jüdischen Schwarzen Fähnlein

Ilona Martijn (Berlin) / Nitzan Menagem (Berlin): Die jüdische Jugendbewegung: Hashomer Hatzair im Berlin der 30er Jahre

Frauke Schneemann (Göttingen): „[…] bogies, Hitler Youth, Militarism, Politics, British Imposition.“ Die Reorganisation der deutschen Pfadfinder:innenbünde im internationalen Kontext (1945-1949)

Max-Ferdinand Zeterberg (Kassel): Ziele und Methoden von Jugendarbeit – Eine Analyse der pädagogischen Diskurse im evangelischen Pfadfinden 1962–1976

Hendrik Knop (Jena): Pfadfinden in der SBZ und der DDR: Überblick und Forschungsstand

Florian Metzger (Göttingen): Kolonialschüler in Witzenhausen in den 1920er und 1930er Jahren

Johann Nicolai (Berlin): Von der „Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie“ zur Freien Akademie – Burg Ludwigstein als Tagungsort einer rechten, freireligiösen Jugendbewegung um Jakob Wilhelm Hauer

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